Der Karfreitag stellt, wie kein anderer Tag, die Frage nach dem Leid: Wie gehen wir mit leidenden Menschen um? Wie gehen wir mit ihren Zweifeln um, auch an Gott? Mit zerbrechenden Gewissheiten, scheiternden Lebensentwürfen und Hoffnungen? Wie reden wir von Gott im Angesicht leidender Menschen? Alle diese Fragen liegen für die Jüngerinnen und Jünger Jesu knallhart auf dem Tisch. Niemand weiß, wie es weiter geht, ob es weiter geht, oder ob die Sache mit Jesus gerade gescheitert ist.
Ein halbes Jahrtausend vor den Ereignissen von Golgatha stellte sich die Frage nach dem Leid auch schon. Auch hier: Gewissheiten und Hoffnungen waren zerbrochen. Juda war besiegt, Jerusalem zerstört. Ist Gott unterlegen? Ist er gescheitert?
In dieser Zeit existentieller Krisen entstand eine Schrift, die wir als das „Trostbuch des Jesaja“ kennen. „Tröstet, tröstet mein Volk“, so beginnt es (Jes 40). Kurz vor dem Ende dieses Trostbuches lesen wir folgendes (Jes 52,13-53,12):
Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –, so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren.
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des HERRN offenbart? Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. [….] Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.
An den tiefsten Stellen des Lebens liegen oft auch die Möglichkeiten zum Neuanfang. Wenn Gewissheiten zerbrechen, muss das gar kein realer Verlust sein. Das ist Ent-Täuschung im ganz wörtlichen Sinn: Die Täuschung fliegt auf. Die Vorstellungen, die sowieso nicht taugen, können abgelegt werden. Selbst unser Reden von Gott formt sich neu: Nur das, was wir von Gott in der Gegenwart leidender Menschen sagen können, hat Bestand. Daran muss sich unser Reden von Gott und unsere Vorstellungen von ihm messen lassen: Wie hören das leidende Menschen? Hilft es ihnen, oder lässt es sie ratlos zurück?
Der Prophet räumt also gleich mehrfach auf mit falschen Vorstellungen. Drei davon möchte ich vorstellen. Sie gehen ineinander über und bauen aufeinander auf.
1.: „Selber schuld“. Wir kennen dieses Vorurteil zur genüge, haben es selber tief verinnerlicht und es wird uns eingeredet von klein auf. Selbst unsere moderne Sozialgesetzgebung ist geprägt davon, sie verdient die Bezeichnung „sozial“ schon gar nicht mehr. Jesus aber war diese Vorstellung immer zuwider. Er wird immer mal wieder konfrontiert mit solchen Ansichten, sie werden an ihn herangetragen, aber er weist sie zurück: Der Blindgeborene (Joh 9) – Ob jemand gesündigt hat, und wer es war, ist für ihn völlig uninteressant. Einem Leidenden muss geholfen werden, das ist seine Antwort, und nicht ein besserwisserisches Wühlen in seiner Vergangenheit.
2.: „Entstellt und unansehnlich“, die Lutherbibel sagt sogar „unwert“. Spätestens da muss es klingeln, hier tun sich schwere Abgründe auf, wozu der Mensch alles fähig ist. Nicht erst heute gilt: Schönheitsideale können eine Tyrannei sein, sie können krank machen an Körper und Geist. Aber sie sind nur die Spitze des Eisbergs, denn dahinter stehen Vorstellungen davon, wie das Leben zu sein hat, was als erstrebenswert gilt. Niemand ist immer nur erfolgreich, kann es überhaupt nicht sein, solche Ideale müssen unerreichbar sein. Das Leiden dagegen lassen die meisten lieber nicht an sich heran, und sehen lieber weg. Gott aber ist das ganze Gegenteil. Er sieht sehr genau hin. Nichts bleibt im Verborgenen. Auch die, die im Dunkeln sind.
3.: „Von Gott geschlagen“. Nein, Gott schlägt niemanden. Es sind die Menschen. Das zeigt auch die Passionsgeschichte sehr genau. Es ist unser Stolz, unsere Uneinsichtigkeit, unsere Aggressionen, auch wenn sie noch so versteckt und verborgen sind: Sie fordern Opfer. Zumindest lassen sie es einfach geschehen. Dass andere unsere Sünden tragen, ist nun wirklich ganz real.
Wir haben Rücksichtslosigkeit mit Freiheit verwechselt. Und es steht wie eine Drohung im Raum, dass die Welt, wenn diese Krise irgendwann einmal vorbei sein sollte, wieder genau so rücksichtslos weiter macht, weil sie immer noch nicht gelernt hat, Freiheit und Rücksichtslosigkeit zu unterscheiden.
Soll das immer so weitergehen?
Nein. Der Tod Jesu ist auch der Protest Gottes gegen die Gnadenlosigkeit der Menschen. Im Namen des Lebens, im Namen der Liebe. Der Tod eines Unschuldigen muss zum Protest führen. Das geht ja selbst uns so, wenn wir uns wenigstens einen Rest Menschlichkeit bewahrt haben.
Was kann also helfen? Nur eine radikale Neuausrichtung. Leiden, Angst, auch unsere eigene Unvollkommenheit und Vergänglichkeit, brauchen wir nicht weiter zu verdrängen und zuzuschütten mit einem Kult um Stärke, die doch keine ist. Die Täuschungen, die doch noch nie das Leben tragen konnten, können wir getrost abwerfen.
Vor allem aber: Der Prophet zeigt Gott ganz menschlich. Nicht Gott hat sich verändert, aber die Art und Weise, wie wir ihn wahrnehmen und von ihm reden. Auch muss Gott nicht versöhnt werden, sondern die Menschen.
Gott zeigt sich schwach und verwundbar, genau so, wie die Menschen ihn wahrnehmen in ihren dunkelsten Stunden, wenn sie verzweifelt nach ihm fragen: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. Aber das ist keine Widerlegung Gottes, sondern: Nur, wer Schwachheit erlebt, kann heilen. Karfreitag ist keine Heldengeschichte. Nicht einmal Ostern ist eine. Die Helden von heute sind ganz oft die Tyrannen von morgen. Gott geht einen anderen Weg.
Der Karfreitag erzählt von Gott, wie er in den Tiefen des Lebens bei den Menschen ist. Wer das miterlebt hat, kann nie wieder rücksichtslos handeln. Denn das Leiden der anderen könnte genausogut auch das eigene Leiden sein.
So wird die Welt neu. Nur so. An diesem Tag, Karfreitag, ist der Ausgang völlig offen. Ja, für die, denen Jesus wichtig gewesen war, bricht gerade alles zusammen. Aber das muss nicht so bleiben. Gott will, dass sich die Dinge heilsam verwandeln. An ihm wird es jedenfalls nicht scheitern.